Graimbergweg 1, 69117 Heidelberg

 

Familie Geißmar

Jakob Geißmar (1868 – 1943)

Elisabeth Geißmar (1880 – 1944)

Martha Geißmar (1905 – 1944)

Else Geißmar (1908 – 2004)

Jakob Geissmar wurde am 1. November 1868 in Mannheim geboren. Seine Eltern, Josef und Clara Geißmar, lebten seit 1867 in der Stadt, wo der Vater eine angesehene, erfolgreiche Anwaltskanzlei führte. Jakobs Großvater, David Jakob Geißmar, war Bezirksrabbiner in Sinsheim gewesen, Jakob selbst war, als er in Heidelberg lebte, Mitglied der evangelischen Heiliggeist-Gemeinde. Jakob Geißmar hatte fünf Geschwister, von denen zwei (Friedrich und Johanna) ebenso wie er selbst den Verfolgungen durch das NS-Regime ausgesetzt waren. Friedrich nahm sich 1940 das Leben, Johanna wurde 1940 nach Gurs und 1942 nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurde. Die anderen drei Geschwister waren vor 1933 gestorben. Die Familie Geißmar war eine wohl situierte, bürgerliche Familie aus Mannheim, in ihrem Denken wahrscheinlich sehr deutsch und nationalliberal. Dem Vater galten Goethe und Bismarck als „sein Heiligstes“, wie es in einem Nachruf in einer Mannheimer Zeitung heißt (1900).

Jakob Geißmar machte 1887 am großherzoglichen Gymnasi­um in Mannheim das Abitur und studierte, nachdem er den einjährigen Militärdienst absolviert hatte, in Heidelberg Jura. Seine berufliche Laufbahn begann am Amtsgericht in Engen, dann kam er nach Mosbach (1897) und schließlich 1905 als Landgerichtsrat an das Landgericht in Heidelberg, wo er bis 1933 tätig war, meistens als Vorsitzender der Kammer für Handelssachen.Im November 1933 sollte der Landgerichtsdirektor

Richter am Heidelberger Landgericht, vorne links Jakob Geißmar

Jakob Geißmar in den Ruhestand versetzt werden. Aber die Machtübertragung an die Nationalsozialisten verhinderte den würdigen Abschluss eines langen Berufslebens: nach einem von ihm „erbetenen“ Urlaub im März 1933 folgte im Mai die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand. Das Landgericht Heidelberg hat in einer Jubiläumsschrift zu seinem 100-jährigen Bestehen sein ehemaliges Mitglied gewürdigt, und seit 2001 erinnert eine Gedenktafel im Heidelberger Justizgebäude an den ehemaligen Richter.

1903 hatte Jakob Geißmar Elisabeth Hirsch, die auch aus Mannheim stammte, geheiratet. In Heidelberg wohnten sie bis 1934 im Graimbergweg 1. In diesem Jahr, bald nach seiner Pensionierung, zog die Familie nach München und später nach Pöcking am Starnberger See; wohl weil sie glaubten, dort sicherer leben zu können. Von dort aus war es ihnen noch möglich, Jakobs Schwester Johanna, die bereits nach Gurs verschleppt worden war, mit einem Paket warmer Kleidung zu unterstützen. In einem Dankesbrief schreibt Johanna von den elenden Lagerbedingungen, vor allem von der bitteren Kälte, unter der die Menschen in diesem Lager am Fuß der Pyrenäen litten. Am 25. Juni 1942 wurde auch Jakob Geißmar mit seiner Frau aus München nach Theresienstadt deportiert, und dort ist er am 17. Dezember 1943 gestorben.1

Elisabeth Geissmar, geb. Hirsch, wurde am 13. Februar 1880 in Mannheim geboren. Fotos zeigen eine schlanke, zarte Frau, „immer eine Strick- oder Näharbeit in der Hand“, wie eine Freundin über sie schreibt. Sie stammte aus einer großbürgerlichen, wohlhaben­den Familie (Jakob Hirsch & Söhne), die von Mannheim aus im internationalen Getreidehandel tätig war.

Ihre Schwester Anna war mit Leo­pold Geißmar (1863 - 1918), dem älteren Bruder Jakobs, verheiratet. Ihr Bruder Paul Hirsch lebte als Wissenschaftler und

Elisabeth Geißmar, strickend, Jakob Geißmar, lesend, ca. 1935/36

Privatgelehrter in Heidelberg in der Happelstraße 15 (seit 1929). Und dieses Haus wurde in den Jahren der zunehmenden Bedrängnis der Juden praktisch zu einem sogenannten Judenhaus, weil das Ehepaar Else und Paul Hirsch verschiedene jüdische Personen aufnahm, die allerdings nach und nach deportiert wurden. Paul Hirsch selbst überlebte, auch weil er eine sehr couragierte Ehefrau hatte. Else Hirsch, geb. Schüle, war nichtjüdisch, ihre (kinderlose) Ehe galt daher als „nicht-privilegierte Mischehe“, was Paul Hirsch zunächst einen gewissen Schutz bot. Aber im Februar 1945 sollte auch er – wie andere jüdische Partner und Partnerinnen aus „Mischehen“ – nach Theresienstadt deportiert werden. Das entschlossene und mutige Verhalten zweier Heidelberger Ärzte rettete ihn. Professor Walther Schönfeld und Dr. Oskar Thorspecken spritzten ihm Pyrifer, was Fieber und Schüttelfrost erzeugte. Die Behandlung war nicht ohne Risiko, aber die Verschleppung nach Theresienstadt war dadurch verhindert worden.

Paul Hirschs Schwester, Elisabeth Geißmar, aber konnte der Deportation nicht entkommen. Sie lebte mit ihrer Familie seit dem Sommer 1934 in München, später in Pöcking. Im Dezember 1941 wurde sie in München in das Sammellager Clemens-August-Straße 9 (Berg am Laim) eingewiesen, und am 25. Juni 1942 wurde sie mit ihrem Mann Jakob nach Theresienstadt deportiert. Dieses KZ, von den Nationalsozialisten auch als „Altersghetto“ bezeichnet, wurde für sie zum Durchgangslager. Im Oktober 1944 wurde sie in das Vernichtungslager Ausch­witz deportiert, und dort ist sie ermordet worden.

Martha Geissmar (geboren am 30. April 1905) und Else Geissmar (geboren am 17. April 1908) waren die Töchter des Ehepaares Jakob und Elisabeth Geißmar.

Else war mit Hans Bernstein verheiratet, aber seit 1936 geschieden. Sie konnte im September 1938 mit ihrer kleinen Tochter Ruth in die USA entkommen.

Jakob, Ruth (Tochter von Else), Elisabeth und Johanna Geißmar, ca. 1935/36

Sie war ausgebildete Konzertpianistin und arbeitete als Klavierpädagogin zunächst in New Orleans, später an der University of Washington in Seattle. Im Jahr 2004 ist sie dort gestorben.

Martha Geißmar wurde im Juni 1943 von Berlin aus nach Theresienstadt deportiert. Über ihre Ankunft dort berichtet Elsa Bernstein, die Schwiegermutter von Else Geißmar und enge Freundin der ganzen Familie: „... und eines Tages ‑ schmerzlich freudige Überraschung ‑ Martha aus Berlin. Mit ihrem Chef, der mit dem ganzen Apparat seiner jüdischen Sippenforschung hierher verfrachtet, und dem sie als seine Sekretärin beigegeben bleibt.“2 Sehr wahrscheinlich ist der „Chef“ Jacob Jacobson, der Leiter des „Gesamtarchivs der Juden in Deutschland“, das seit 1905 jüdische Personenstandsregister und Familienbücher bearbeitete. (Das 1987 in Heidelberg gegründete „Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland“ knüpft mit seiner Arbeit an dieses „Gesamtarchiv“ an.)

Elsa Bernstein (1868 - 1949) war selbst im Juni 1942 aus München nach Theresienstadt verschleppt worden; sie war damals 75 Jahre alt und blind. Im Lager wurde sie der „A-Promi­nenz“ zugeordnet, was hieß, dass sie aus der Kaser­ne, wo sie zunächst mit Geißmars ein­quartiert war, in das „Prominentenhaus“ überwiesen wurde, was etwas weniger räumliche Enge und tägliche Mühsal bedeutete. Elsa Bernstein war um 1900 eine sehr bekannte Bühnenschriftstellerin gewesen; das war der Grund für diese bevorzugte Behandlung. Sie hat die Befreiung des Lagers im Mai

1945 erlebt. In ihren „Erinnerungen an Theresienstadt“ berichtet sie von „Vater Geißmar“, der fest an eine Rückkehr nach Heidelberg geglaubt habe („Wir nehmen Sie mit nach Heidelberg“) und der doch in Theresienstadt sterben musste. Sie trauert um „diesen anspruchslos hochstehenden, heiter gütigen, außergewöhnlichen und schlichten Mann. Vorbei. Erlegen den elenden Zuständen der Unterbringung und Ernährung.“ „Frau Liesel“ sei nach seinem Tod „nur mehr Gefäß der Erinnerung an ihn“.

Martha Geißmar mußte eine sehr gute Geigenspielerin gewesen sein. In Theresienstadt stellte ihr der Ältestenrat (die jüdische Leitung des Ghettos) nach einem Probespiel sogar eine Geige zur Verfügung. Elsa Bernstein führt dies auch

Konzert in der Unterkunft, Zeichnung von Helga Weissova

auf das Ansehen der Forschungsstelle „Gesamtarchiv“ zurück, bei der Martha auch im Lager arbeitete. Den 40. Hochzeitstag ihrer Eltern im Sommer 1943 gestaltete sie – trotz der kärglichen Verhältnisse – zu einem „auserlesenen“ Tag: als Ständchen ein Mozartquartett und am Abend ein Konzert der Kammermusikvereinigung mit Musik von Händel und Bach. Martha spielte dabei die erste Geige.

Im Oktober 1944 fuhren die letzten Deportationszüge von Theresienstadt nach Auschwitz. Nachdem Elisabeth Geißmar den Befehl zum Transport erhalten hatte, meldete sich Martha sofort freiwillig als Begleitung der Mutter, schreibt Elsa Bernstein. Spätestens im November 1944 war ihr klar, dass 

Deportation, Zeichnung von Bedrich Fritta

beide tot waren. Die „Polentransporte“, vor denen man sich in Theresienstadt immer gefürchtet hatte, führten nicht in ein Arbeitslager, sondern in den Tod. Eine Postkarte Marthas, auch mit Grüßen von der Mutter, an ihren Onkel Paul Hirsch in Heidelberg vom Oktober 1944 ist das letzte Lebenszeichen, das von ihr erhalten ist. Mutter und Tochter wurden – da kein genaues Todesdatum bekannt ist – für tot erklärt.

1 Informationen zu Jakob Geißmar und seiner Familie finden sich in folgenden beiden Publikationen: (1) Richard Zahlten: Meine Schwester starb in Auschwitz. Gedenkbuch für Dr. Johanna Geissmar und ihre Familie. Lahr 2000. (2) Landgericht Heidelberg (Hrsg.): 100 Jahre Landgericht und Staatsanwaltschaft Heidelberg 1899-1999. Heidelberg 1999.

2 Vgl. Elsa Bernstein: Das Leben als Drama. Erinnerungen an Theresienstadt. Hrsg. von Rita Bake und Birgit Kiupel. 3. Aufl. Hamburg 2011: Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Weitere Hinweise gaben Frau Vera Burkhard (Schweiz) und Frau Ruth Shimondle (USA), die Tochter Else Geißmars.